Am 23. November 1992 verübten Neonazis Brandanschläge auf zwei Wohnhäuser in Mölln, die von türkischen Familien bewohnt wurden. Dabei starben drei Menschen und neun weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Jahr später wurden Michael Peters, damals 26 Jahre alt, zu lebenslanger Haft und Lars Christiansen, damals 20, zu zehnjähriger Jugendstrafe wegen der Mordanschläge verurteilt. Das Gericht sah es als bewiesen an, dass die beiden stadtbekannten Rechtsradikalen Sprengsätze aus mörderischem Ausländer- und Islamhass in die Häuser geworfen hatten.

Bundesweit wurden in dem Zeitraum von 1991 bis 1993 zahlreiche Brandanschläge gegen Migranten und Asylbewerber verübt. Die Brandanschläge gingen einher mit einer massiven medialen und politischen Hetze gegen Asylbewerber.

 

Sprachlich betrachtet, ist die Moderation ein Lehrstück für den Gebrauch von Modalpartikeln und Modaladverbien. Diese Mittel werden vom Moderator eingesetzt, um den rechtsradikalen Tatverdacht zu relativieren. "Wohl", "offenbar", "überhaupt", "durchaus nicht sicher" treten an die Stelle recherchierter Fakten.

"Was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm, wie das, was wir weglassen." Mit diesem Satz habe ich ganz am Anfang Kästners Nachrichtenredakteur zitiert. Die Berichterstattung über Mölln und über viele andere Ereignisse zeigt, glaube ich, daß wir auf beides achten müssen: auf die Konstruktionsprinzipien der Medienrealität und die Verdrängungsmechanismen im Nachrichtengeschaft.

Ich hoffe nicht, daß ich mit meinem letzten Beispiel einen anhaltenden Nachrichtentrend beschrieben habe. Der Trend heißt: Routine statt Nachdenklichkeit. Speku­lation statt Nachricht, Verdrängung statt Aufarbeitung. Die Moderation erinnert uns, glaube ich, wie schon der Boulevardisierungstrend exemplarisch daran, daß Nachrichten keine beliebige Ware sind.

Auf zwei Hoffnungsschimmer will ich am Ende meiner Exkursion hinweisen: Es gibt hervorragende Beiträge in deutschen Nachrichtensendungen, die nicht in diese Trends einzuordnen sind. Und der zweite Hoffnungsschimmer: Viele Menschen in Deutschland haben trotz solcher Nachrichten, trotz der in den Medien gezeichneten Realität, ihren Realitätssinn nicht verloren. Sie haben sich gegen den rechtsradikalen Terror gestellt.

5. Fazit

Ich will zum Schluß ein kurzes Fazit ziehen. Aus heutiger Sicht ist mit der Tagesschau der Gipfel journalistischer und sprachlicher Distanz erreicht. Die geringe Anfälligkeit der Tagesschau für konzeptionelle Veränderungen (das anhaltende Bemühen um Neutralität und Sachlichkeit) erklart sich vielleicht dadurch, daß die "Tagesschau der Nachrichtensprecher" aus einem gegenteiligen Konzept hervorgegangen ist, nämlich der 'Tagesschau der Filmberichte", die auf eine filmische (femsehadäquate) und publikumswirksame Berichterstattung ausgerichtet war. Sprachlich betrachtet, hat uns die Tagesschau vor allem folgendes beschert:

§        die Wortdominanz in der Berichterstattung,

§        den Fakten- und Verlautbarungsjournalismus,

§        den Politikerjargon,

§        eine komplexe und oft unverständliche Nachrichtensprache und

§        die schablonenhafte Bilanzierung der Nachrichtenereignisse.

 

Alle anderen Nachrichtenkonzepte sind auf mehr Nahe zur Nachricht, zum Publikum und zum Ereignis bedacht. Schon in der ersten öffentlich-rechtlichen Konkurrenzsituation zwischen ARD und ZDF Anfang der 60er Jahre bilden sich fünf Strategien heraus, mit denen der Erfolgskonzept der Tagesschau begegnet werden soll:

§        mehr subjektive Darstellung (Personifizierung) in der Nachrichtenpräsentation.

§        mehr journalistische Vertiefung.

§        mehr unterhaltsame Information (publikumswirksame Themenwahl),

§        mehr Augenzeugen- und Live-Perspektive und nicht zuletzt

§        die Kopie des bewährten Tagesschau-Konzepts.

 

Diese fünf Strategien prägen die Geschichte der heute-Sendung des ZDF. Inzwischen tritt eine weitere Strategie hinzu, der Quotenkampf um NachrichtenZuschauer wird im Programmumfeld geführt.

Die Idee der journalistischen Vertiefung hat zu den Nachrichtenmagazinen geführt. Die Nachrichtenmagazine erweitern das Sprecherkonzept um die Moderation, Dialogformen und Schwerpunktbeiträge. Das Moment der subjektiven Nachrichtendarstellung wird in der Berichterstattung verstärkt. Während die primär journalistische Intention der Tagesschau auch in den Tagesthemen erhalten bleibt zeichnet sich das heute Journal durch einen Trend zur unterhaltsamen Information und durch einen Trend zur versteckten Meinung und Interpretation der Tagesereignisse aus.

Die Idee der Nähe und der publikumswirksamen Themenwahl wird in der privat-kommerziellen Konkurrenzsituation aufs Neue betont. Die Strategien des Nachrichtenmarketings lauten: Personifizierung, Dramatisierung und Emotionalisierung des Nachrichtenstoffs. Wirklich neu ist die werblich gemachte Sendungsdramaturgie und die scheinbar attraktivere Verpackung der Information. Die Sprache des Fakten-Journalismus in der Tagesschau - Was ist passiert? - entwickelt sich zur Sprache der Nachrichtenstory - Was kann man aus der Geschichte machen? Der Versuch, mehr Nähe durch die Nachrichtenauswahl und Nachrichtendarstellung zu erzeugen, birgt umgekehrt die Gefahr des Distanzverlustes in sich. Diese Tendenz zeigt sich in ganz unterschiedlichen Ausprägungen:

o       in der Faktizierung der Nachrichtenquellen,

o       in der Aktualitätshektik: Oberfläche statt Hintergrund,

o       in der voyeuristischen Haltung.

o       in der Verpackung an Stelle der Information und

o       in der Meinung und Spekulation an Stelle recherchierter Fakten.

 

Sie fragen zurecht, wohin die Nachrichtenentwicklung führt. Meine Zeitreise durch 40 Jahre Nachrichtengeschichte deutet darauf hin, daß es kaum ein Muster gibt, das nicht zu den "repetitive pattern", den wiederholten Mustern, der Nachrichtenberichterstattung gehört. Die salomonische Antwort lautet deshalb zum Schluß: Die weitere Entwicklung hängt nicht zuletzt von uns. dem Publikum ab. Es gibt ein zuverlässiges Gesetz, dem alle Programme unterliegen: Was wir nicht anschauen, setzt sich nicht durch. Kästners Redakteur hätte vielleicht gesagt: "Was wir anschauen, ist nicht so schlimm, wie das, was wir abschalten".

 

Muckenhaupt, Manfred: Sprachliche und journalistische Tendenzen, in: Hans-Jürgen Heringer (Hrsg): Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Paris, Presses Sorbonne Nouvelle 1994 (Akten des Kolloquiums "Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache", Paris 5.-6. November 1993; 321 S.); S. 81 – 120.